07.04.2021

Komplexität statt Kontamination: Cyanobakterien mögen es gesellig

Interdisziplinärer Ansatz ermöglicht Untersuchung von bisher unbekannten Mikroorganismen

Elektronenmikroskopische Aufnahmen von drei nicht-axenischen Cyanobakterien. Assoziierte Kokken, Spirillen und stäbchen-förmige Bakterien sind durch Pfeile gekennzeichnet (HZI/M. Rohde & DSMZ/J. Petersen)

PD Dr. Jörn Petersen

Forschende rund um Privatdozent Dr. Jörn Petersen und Dr. Boyke Bunk vom Leibniz-Institut DSMZ-Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen GmbH in Braunschweig haben in einem interdisziplinären Ansatz drei verschiedene Cyanobakterien und ihre assoziierten Mikroorganismen untersucht. Zeitgleich konnten sie die Stellung dieser wichtigen Cyanobakterien im Stammbaum des Lebens bestimmen. Die Forschungsergebnisse publizierte das Team nun in einer Sonderausgabe des Fachmagazins Genes mit dem Schwerpunkt Metagenomik (https://doi.org/10.3390/genes12030389).

Eine zeitgemäße taxonomische Charakterisierung von Cyanobakterien ist außerordentlich schwierig, sie sind seit Jahrzehnten ein Zankapfel von Mikrobiologen und Botanikern und infolgedessen in Bezug auf ihre Verwandtschaftsbeziehungen bisher nur unzureichend untersucht. In einem kombinierten Ansatz aus Mikrobiologie, Metagenomik und Bioinformatik haben die Forschenden aus Braunschweig nun exemplarisch drei verschiedene Cyanobakterien näher untersucht. „Die Herausforderung dabei ist, dass die Cyanobakterien nicht in Reinkultur vorliegen“ erläutert Studienleiter Jörn Petersen. In ihrem Lebensraum, der sogenannten Cyanosphäre, sind sie von vielen anderen, häufig unbekannten Bakterienarten umgeben. Ohne diese Mitbewohner, die früher oft als lästige Kontaminationen angesehen wurden, sind einige Cyanobakterien gar nicht in der Lage zu überleben. Aber eben diese komplexe Lebensgemeinschaft macht die Charakterisierung des zentralen Cyanobakteriums auf der genetischen Ebene so schwierig, da keine reine DNA isoliert werden kann. Erst die Kombination verschiedener bioinformatischer Methoden erlaubte es den Forschenden, gesicherte Aussagen zur phylogenetischen Einordnung der untersuchten drei Cyanobakterien selbst sowie der Zusammensetzung der Cyanosphäre zu treffen. In ihrer Studie fanden die Forschenden bis zu 40 heterotrophe Bakterien, die von den Assimilaten eines einzigen fotosynthetischen Wirtes leben, und sie entdeckten neben vielen neuen Arten bisher unkultivierter Bakterien auch mehr als ein Dutzend neuer Genera. In den letzten Jahren erlaubten Metagenom-Studien exotischer Lebensräume wie der Tiefsee oder dem menschlichen Mikrobiom Einblicke in die Vielfalt unkultivierter Mikroorganismen. Laut Bioinformatiker Bunk liegt diese „dunkle Materie der Mikrobiologie“ bisher leider nur als digitales Vermächtnis zuvor isolierter DNA-Proben vor. Im Gegensatz dazu können in unseren Kulturen nun komplexe Lebensgemeinschaften untersucht werden, die sich über Jahrzehnte hinweg stabil unter Laborbedingungen erhalten haben – eines der untersuchten Cyanobakterien, Stigonema ocellatum, wurde bereits vor über fünfzig Jahren im Allgäu aus einem Torfmoos isoliert. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Cyanosphäre einen großen Schatz an unmittelbar zugänglicher Biodiversität enthält, der bisher noch völlig unerschlossen ist. Die Erforschung der Cyanobakterien, ihrer engen Interaktionen mit den sie umgebenden Mikroorganismen und den Stoffwechselwegen steht noch ganz am Anfang. Wir sehen aber großes wissenschaftliches Potential auch für eine spätere biotechnologische Nutzung der Ressourcen“ fasst Jörn Petersen zusammen.

Cyanobakterien: Gestalter der Erde
Cyanobakterien, fälschlicherweise auch als „Blaualgen“ bezeichnet, sind eine der ältesten Lebensformen. Sie gestalten seit über drei Milliarden Jahren durch ihre Sauerstoffproduktion die Atmosphäre der Erde. Die Bakterien sind noch heute die Hauptlieferanten von Sauerstoff in Flüssen, Seen und Ozeanen. Ihre ökologische Bedeutung ist groß; schätzungsweise bis zu 30% der fotosynthetischen Kohlendioxidfixierung erfolgt über diese Mikroorganismen. In Indien werden bestimmte Isolate zur Rekultivierung von unfruchtbaren Salzböden eingesetzt. Wirtschaftlich sind die Cyanobakterien bisher vor allem durch ihren Einsatz als Nahrungsergänzungsmittel, beispielsweise Spirulina, und für biotechnologische Prozesse wie der Herstellung von Aminosäuren oder Biotreibstoff interessant. Cyanobakterien sind aber auch in der Lage bioaktive Substanzen wie beispielsweise Neuro- und Lebertoxine zu bilden. Besonders in den Sommermonaten, wenn klimatische Bedingungen zu cyanobakteriellen Blüten in stehenden Gewässern führen, wird diese Toxinbildung zur Gefahr für Mensch und Tier. So haben kontaminierte Wasserstellen im Nordwesten Botswanas im vergangenen Sommer zu einem Massensterben von über 300 Elefanten geführt.

Originalpublikation
Marter, P., Huang, S., Brinkmann, H. Pradella, S., Jarek, M., Rohde, M., Bunk, B., Petersen, J. (2021) Filling the Gaps in the Cyanobacterial Tree of Life—Metagenome Analysis of Stigonema ocellatum DSM 106950, Chlorogloea purpurea SAG 13.99 and Gomphosphaeria aponina DSM 107014. Genes 2021, 12(3), 389; https://doi.org/10.3390/genes12030389  

 

DSMZ-Pressekontakt:
PhDr. Sven-David Müller, Pressesprecher des Leibniz-Instituts DSMZ-Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen GmbH
Tel.: 0531/2616-300
Email: press(at)dsmz.de

Über das Leibniz-Institut DSMZ
Das Leibniz-Institut DSMZ-Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen GmbH ist die weltweit vielfältigste Sammlung für biologische Ressourcen (Bakterien, Archaeen, Protisten, Hefen, Pilze, Bakteriophagen, Pflanzenviren, genomische bakterielle DNA sowie menschliche und tierische Zellkulturen). An der DSMZ werden Mikroorganismen sowie Zellkulturen gesammelt, erforscht und archiviert. Als Einrichtung der Leibniz-Gemeinschaft ist die DSMZ mit ihren umfangreichen wissenschaftlichen Services und biologischen Ressourcen seit 1969 globaler Partner für Forschung, Wissenschaft und Industrie. Die DSMZ ist als gemeinnützig anerkannt, die erste registrierte Sammlung Europas (Verordnung (EU) Nr. 511/2014) und nach Qualitätsstandard ISO 9001:2015 zertifiziert. Als Patenthinterlegungsstelle bietet sie die bundesweit einzige Möglichkeit, biologisches Material nach den Anforderungen des Budapester Vertrags zu hinterlegen. Neben dem wissenschaftlichen Service bildet die Forschung das zweite Standbein der DSMZ. Das Institut mit Sitz auf dem Science Campus Braunschweig-Süd beherbergt mehr als 75.000 Kulturen sowie Biomaterialien und hat knapp 200 Beschäftigte. www.dsmz.de  

Über die Leibniz-Gemeinschaft
Die Leibniz-Gemeinschaft verbindet 96 selbständige Forschungseinrichtungen. Ihre Ausrichtung reicht von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Raum- und Sozialwissenschaften bis zu den Geisteswissenschaften. Leibniz-Institute widmen sich gesellschaftlich, ökonomisch und ökologisch relevanten Fragen. Sie betreiben erkenntnis- und anwendungsorientierte Forschung, auch in den übergreifenden Leibniz-Forschungsverbünden, sind oder unterhalten wissenschaftliche Infrastrukturen und bieten forschungsbasierte Dienstleistungen an. Die Leibniz-Gemeinschaft setzt Schwerpunkte im Wissenstransfer, vor allem mit den Leibniz-Forschungsmuseen. Sie berät und informiert Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Öffentlichkeit. Leibniz-Einrichtungen pflegen enge Kooperationen mit den Hochschulen - u.a. in Form der Leibniz-WissenschaftsCampi, mit der Industrie und anderen Partnern im In- und Ausland. Sie unterliegen einem transparenten und unabhängigen Begutachtungsverfahren. Aufgrund ihrer gesamtstaatlichen Bedeutung fördern Bund und Länder die Institute der Leibniz-Gemeinschaft gemeinsam. Die Leibniz-Institute beschäftigen rund 20.000 Personen, darunter 10.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Der Gesamtetat der Institute liegt bei mehr als 1,9 Milliarden Euro. www.leibniz-gemeinschaft.de